Die Multiple Chemikalien Sensitivität ist eine schwere chronisch inflammatorische Multi-Systemerkrankung, die laut einer Fachinformation des Verbandes Deutscher Umweltmediziner (dbu) zu einer der schwersten bekannten Erkrankungen zu zählen ist. „Die Auslösung schwerer Krankheitssymptome ist jederzeit und überall sowie durch Nahrung möglich.“
Patienten reagieren mit zum Teil heftigen allergieähnlichen Unverträglichkeitsreaktionen auf diverse Chemikalien, z.B. in Form von Duftstoffen, Lösungsmitteln, Ausdünstungen von Reinigungsmitteln, Böden, Möbeln, Bau- und Bauhilfsstoffen, auf Pestizide, Schwermetalle, auch in Nahrungsmitteln, Zigarettenrauch, Stäube und vieles mehr.
Die Reaktionen reichen von Hals-, Bauch- und Kopfschmerzen, starkes Brennen der Schleimhäute, Schwellungen bis hin zu akuter Luftnot und können bis zum Kreislaufkollaps führen.
Eine Reaktion kann auch durch Einwirkung geringer und geringster Mengen von Chemikalien eintreten, weil einerseits eine Sensibilisierung erfolgt, häufig aber auch eine Kapazitätsgrenze überschritten ist, über die hinaus auch kleine Mengen weiterer Fremd- oder Schadstoffe vom Körper nicht mehr toleriert werden können.
In ganz schweren Fällen kann MCS auch tödlich sein.
Weitere häufig auftretende Symptome können sein:
- Schwindel, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Wortfindungsstörungen, allgemeine Verlangsamung, Koordinationsstörungen
- Polyneuropathien
- Entwicklung einer extremen Geruchsempfindlichkeit
- Herzrhythmusstörungen, Muskelzittern, Gangstörungen, Gelenkschmerzen
- Magen-Darm-Beschwerden, Hautausschläge
- Intoleranz gegenüber Fremdmaterialien (z.B. Zahnwerkstoffe)
- Erschöpfung durch chronische subklinische Entzündung u.v.m.
Bei vielen Patienten entsteht auch eine Medikamentenunverträglichkeit, die eine Behandlung anderer Erkrankungen erschwert und gravierende Probleme beim Einsatz von z.B. Narkosemitteln oder Desinfektionsmitteln schaffen kann.
Durch die extreme Stoffwechsellage ist der Vitamin- und Mineralstoffhaushalt vielfach so sehr in Anspruch genommen, so dass sich Mangelzustände mit den dazugehörigen Symptomen entwickeln können.
MCS ist international im WHO-Krankheitskatalog ICD 10 unter T. 78.4 aufgeführt und gehört somit zur Rubrik:
„Allergie, nicht näher bezeichnet; Kapitel 19: Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen, Abschnitt T 66 bis T 78 (Sonstige und nicht näher bezeichnete Schäden durch äußere Ursachen).“
Dieser Diagnose-Code ist auch in Deutschland verbindlich. Gegen eine Diagnose aus dem psychischen Bereich kann man vorgehen. Außerdem ist MCS seit 1996 als Behinderung im Sinne des Sozialgesetzbuches IX anerkannt.
Allerdings: Die ICD-10-Einstufung wird in Deutschland und vielen anderen Ländern ignoriert. Und ab 2024 könnte diese Klassifizierung sogar wegfallen.
MCS ist keine psychosomatisch begründete Erkrankung, die man mit Desensibilisierung bzw. Konfrontationsmethoden, schon gar nicht mit Antidepressiva weg therapieren kann. Dies führt in der Regel zur Verschlimmerung des Zustandes, da der Körper diese Stoffe kaum entgiften kann und die Entzündungsmechanismen noch verstärkt werden.
Psychisch bedingte Ursachen von MCS sind wissenschaftlich längst widerlegt, wie auch der Ärzte-Fachverband dbu in seiner bereits oben zitierten Fachinformation klargestellt hat ( s.o.).
Als Kriterien für MCS nach Cullen1 gelten folgende Faktoren:
- die Symptome wurden in Zusammenhang mit einer dokumentierten Umweltexposition erworben
- die Symptome betreffen mehr als ein Organ
- das Krankheitsbild ist chronisch
- die Symptome erscheinen und verschwinden in Zusammenhang mit vorhersehbaren Stimuli
- die Symptome werden durch Chemikalien unterschiedlicher Struktur und Wirkungsmechanismus hervorgerufen
- die Exposition sehr niedriger Dosen führt zur Auslösung der Symptome
- kein einzelner üblicher Organfunktionstest kann die Symptome erklären
Schon 1948 wurde MCS das erste mal beschrieben. Forschungstätigkeiten in den 90er und 00er Jahren konnten die pathologischen Stoffwechselwege, die hinter der Erkrankung stehen, herausarbeiten.
Beim Weg der neurologischen Entzündung erfolgt die Entzündungsreaktion in bestimmten Zellen des Nerven- und Immunsystems durch Aktivierung definierter Rezeptoren in deren Zellwänden durch Fremd- oder Schadstoffe. In der Folge entstehen durch einen Calcium-Ionen-Einstrom erhöhte Stickoxidkonzentrationen und die Zelle reagiert mit einer Entzündungsreaktion.
Bei weiterer Einwirkung reagieren die Rezeptoren immer empfindlicher auf die auslösenden Substanzen, es entsteht nitrosativer und oxidativer Stress und die Entzündungsreaktion chronifiziert sich.
Bei der sogenannten chemischen Entzündung erwirkt ein Schadstoff, der bis in die Zelle vordringen kann, durch Überlastung des Entgiftungssystems oxidativen Stress, der nachfolgend eine Entzündungsreaktion auslöst. Auch daraus können chronische Entzündungslagen entstehen.
Chronischer nitrosativer und oxidativer Stress sowie die daraus resultierenden Entzündungen haben für den Organismus weitreichende krankmachende Folgen (s. Rubrik Erkrankung). Enzyme können blockiert und damit wichtige Stoffwechselwege unterbrochen werden, die Energieproduktion in den Zellen und/oder die Entgiftung wird behindert oder auch die Regulation des Immunsystems empfindlich gestört.
Vor allem das wichtigste Antioxidans der Zellen, das Glutathion, wird durch oxidativen und nitrosativen Stress extrem in Anspruch genommen und vermindert.
Der Arzt Bodo Kuklinski beschreibt in einem Aufsatz die wichtige Rolle des Glutathions
(Mit GSH ist die aktive, reduzierte Form des Glutathions gemeint, Xenobiotika = Fremdstoffe):
„Dreiviertel unserer Patienten wiesen eine GSH-Verarmung und fast 50 % intrazelluläre GSH-Defizite auf. Sinken intrazelluläre Glutathionspiegel auf 30 % droht der Zelltod. Es ist ableitbar, dass kurz oberhalb dieser Grenze der Organismus die „Notbremse“ zieht. Er benötigt das noch vorhandene GSH zur Aufrechterhaltung lebenswichtiger biochemischer Abläufe. Er kann sich den Luxus auch für geringste Detoxifikationen nicht mehr leisten. Alle Xenobiotika, die direkt oder indirekt über GSH entgiftet werden, lösen Intoleranz-Symptome als Warnsignal aus. Ob Styrol-, Glykol-, PCB-Ausgasungen, Aflatoxine, Formaldehyde oder Alkohole – auch diese werden zu Aldehyden metabolisiert – sind nicht mehr abbaubar. Diese Intoleranz-Symptome erklären auch die Todesfälle Chemikaliensensitiver bei geringsten Xenobiotikakonzentrationen. Die GSH-Reserven waren mit Sicherheit erschöpft.“
Kuklinski: Glutationtransferase
MCS bleibt vielen Ärzten verborgen, weil sie weder die Krankheit noch erweiterte Bluttests und andere neuere Methoden der Diagnostik nicht kennen. Patienten finden sich trotz großer Not in einer Ärzteodyssee wieder.
Im Schnitt vergehen vom Beginn der Erkrankung bis zur Diagnose 8 Jahre! Das ist viel vertane Zeit, denn je eher eine Diagnose erfolgt, Auslöser vermieden und Ursachen behandelt werden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einer grundlegenden Verbesserung des Befindens.
Die Krankheit lässt sich mit herkömmlichen allergologischen Testungen, wie Prick- und Epikutantestungen nicht nachweisen. Diese Testungen dienen in der Regel als Nachweis bei Typ I - Allergien, wie Erdnuss-Allergie und ähnliches oder auch z.B. bei Wespenstichen, bei denen es bis zum lebensbedrohlichen Schock kommen kann. Diese Reaktionen gehören zum IgE-vermittelten Soforttyp.
MCS-Betroffene haben aber schwerpunktmäßig mit Typ IV Langzeitreaktionen zu kämpfen. Diese sind nicht Antikörper-vermittelt und werden durch Provokationstest noch verschlimmert. Es können neue Unverträglichkeiten getriggert werden.
https://www.imd-berlin.de/spezielle-kompetenzen/allergie/diagnostik-der-typ-iv-allergie-spaettyp
Es ist davon auszugehen, dass Menschen mit einer (häufig unerkannten) entzündlichen Vorbelastung z.B. durch Viren, Bakterien, Allergien, instabiler Halswirbelsäule, oder auch bei bereits bestehender Chemikalien-Belastung. z.B. durch eine berufliche Tätigkeit, eine größere Wahrscheinlichkeit besitzen, eine MCS-Erkrankung zu entwickeln.
Auch Menschen mit einer genetisch bedingten geringeren Entgiftungskapazität, das sind ca. ein Drittel der Bevölkerung, haben ein höhere Risiko für diese Erkrankung.
Leider wird oft übersehen, dass Betroffene einer Chronique Fatigue Syndroms (CFS) in vielen Fällen eine Chemikaliensensibilität im Hintergrund aufweisen. Dies muss nachhaltige Konsequenzen für die Behandlung haben.
Eine gründliche Diagnostik am Anfang ist die beste Grundlage für eine erfolgreiche Therapie. Durch ein ausführliches Anamnesegespräch kann der Umfang der Untersuchungen eingegrenzt werden.
Ärzte der Fachrichtung „Klinische Umweltmedizin“ sind die einzigen Mediziner, die eine ursachenbezogene Diagnose und Behandlung für MCS anbieten.
Schadstoffdiagnostik
- Die wichtigsten Schadstoffklassen wie Schwermetalle, Pestizide, Holzschutzmittel, PCBs.
- Evtl. Schadstoffe, denen der Patient durch berufliche Tätigkeit oder zu Hause (z.B. kritische Baustoffe) ausgesetzt ist.
Basis- und Entzündungsdiagnostik
- Klassische Entzündungsparameter wie CRP, Leukozyten (oft unauffällig)
- Entzündungsbotenstoffe (Zytokine, v.a. Interferon-Gamma, Interleukine 1ß, 6, 8, TNF-Alpha)
- Wichtig: Nitrosativer und Oxidativer Stress
- Vitamin- und Mineralienstatus
Abgeklärt werden sollte weiterhin:
- Bestehende Last von Viren, Bakterien und Parasiten
- Allergien und Unverträglichkeiten, Allergiestatus-Parameter (ECP), Immunstatus
- Instabile Halswirbelsäule
sowie
- Mitochondriendiagnostik
- Darm-Dysbiose, Leaky gut
- Genetische Entgiftungskapazität
- Stress
- Elektrosmog-Belastung
Es ist auch sinnvoll, Komorbiditäten wiez.B. Kryptopyrrolurie (KPU/HPU), Hashimoto, Mastzell-Aktivierungssyndrom (MCAS) abzuklären.
MCS-Patienten haben es in Deutschland weiterhin schwer. Die Behandlung kann über die gesetzlichen Krankenkassen nicht abgerechnet werden. Daher gibt es nicht viele Behandler und die Kosten für Diagnose und Therapie müssen überwiegend selbst aufgebracht werden.
Dazu kommen oftmals erhebliche Probleme am Arbeistplatz, da diese selten für MCSler verträglich sind. Viele müssen eine Frühverrentung anstreben, was i.d.R. eine finanzielle Katastrophe bedeutet und zu heftigen Kämpfen mit dem Rententräger führt.
Gleichzeitig bedingt die Erkrankung oft eine soziale Isolation (u.a. Duftstoffe, Waschmittel, Räumlichkeiten) und führt zu ständigen Konflikten mit der Umgebung, was für die Erkrankten eine weitere große Stressquelle darstellt.
Bei der Suche nach einem Behandler, i.d.R. ein Arzt der Klinischen Umweltmedizin, kann das Beratungstelefon des Vereins weiterhelfen.
Um auch bei Ärzten, Behörden u. ä. zu dokumentieren, dass bei Ihnen MCS vorliegt, bietet der Verein den Betroffenen einen MCS-Umweltpass / Unverträglichkeits- Ausweis an, den Sie bei Bedarf vorlegen sollten.
In diesem Ausweis wird genau erklärt, worauf MCS-Betroffene zu achten haben, bei welchen Substanzen und Umgebungen sie vorsichtig sein sollten. Dies gilt auch für öffentliche Gebäude, Krankenhäuser, Kurkliniken usw.
Alle MCS-Kranken haben die Möglichkeit, diesen Ausweis bei uns gegen Selbstkostenbeitrag / Schutzgebühr anzufordern.
Wie Sie diesen Ausweis beziehen können, erfahren Sie hier.
Zur Behandlung von MCS als Multisystem-Erkrankung siehe „Therapie von CME“
1 Cullen, M.R. (1987): Multiple chemical sensitivities: summary and directions for future investigators. In: Cullen, M. (Hrsg.): Workers with multiple chemical sensitivities. Occupational Medicine: State of the Art Reviews, Vol 2, No 4, Hanley and Belfus, Philadelphia. 801-804